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Kunst

Die Starken sind zu feige zur Schwäche

Gereon Inger über seine Ausstellung „codex dissolutus. Über die Schwäche“.

Interview: Bernd Kegel
Bielefelder Stadtblatt, 17. 5. 2001

Gereon Inger stellt zurzeit in der Artists-Galerie aus: unter anderem ist hoch über dem Dach ein Buch den Elementen ausgesetzt.
Titel der Ausstellung: „codex dissolutus. Über die Schwäche“.

StadtBlatt: Ist es nicht Schwachsinn, sein Lieblingsbuch der Zerstörung auszusetzen?

Gereon Inger: Es ist sicher kein Schwachsinn, aber es ist melancholisch, denn ich liebe dieses Buch mit den gesammelten Fragmenten des griechischen Philosophen Heraklit. Und darum wird es da oben wieder den Zerstörungen durch die Elemente ausgesetzt, über die Heraklit schreibt. Der Blitz steuert das All, sagt er, und jetzt warte ich darauf, daß er dort einschlägt.

StadtBlatt: Ist das nicht eine Form der Bücherzerstörung?

Gereon Inger: Es ist das Gegenteil von Bücherverbrennung, weil ich zu dem Buch, das eine gute Ausgabe von 1944 ist, einen starken Bezug habe – und trotzdem wird es zerstört. Aber ich sehe mit grimmigem Vergnügen, dass das, was an diesem Buch wahr ist, jetzt auf dieses Buch herunterkommt. Heraklit ist hart, jetzt geht die Welt hart mit ihm um.

StadtBlatt: Orientiert sich das an der Kunstform „Fluxus“ aus den 60er Jahren?

Gereon Inger: Fluxus -„das Fließende“ – bezieht sich eindeutig auch auf Heraklit, genau wie ich. Besucher der Ausstellung können nachlesen, was von ihm an unsicheren Zitaten übrig ist: ich habe alle Sätze von Heraklit an die Plakatwand der Artist´s genagelt. Die lassen sich so umsetzen, daß sie von den Kultur- und Naturgewalten zerstört werden. Deshalb wird Ihnen mancher Satz auch im Stadtgebiet begegnen. Es ist zum Beispiel ein angebrannter Geldschein in Umlauf gebracht: mit Heraklits Aussage über Feuer als Gegentausch für alles. Oder es wurden Menschen, Spiegel oder Kaugummis in der Fußgängerzone mit weiteren Heraklit-Sprüchen beschriftet. Die Fundstellen und den Zerstörungszustand kann man auf meiner Internet-Seite und auf der Ausstellung teilweise sehen.

StadtBlatt: Dennoch. Ist es nicht eher Sache der Kunst, das Gute, Schöne und Wahre für die Ewigkeit zu bewahren?

Gereon Inger: Ja, nur nicht für die Ewigkeit, sondern für die Gegenwart. Das Kunstwerk ist zum Beispiel nicht das zersetzte Buch, sondern die Kunst ist, dass dieses Buch oben auf dem Dach zersetzt wird. Damit wird das Buch zwar zerstört, aber es wird etwas Schönes und Wahres aufgebaut – im Bewusstsein der Leute, die das sehen und dadurch, dass dieser Vorgang hier veröffentlicht wird.

StadtBlatt: Was ist für dich ein Schwächling?

Gereon Inger: Jemand, der mit seiner Schwäche nicht mehr umgehen kann, der aus seiner Schwäche nichts machen kann. Schwäche hat diese Formen, es gibt das Schwächliche – viele Menschen, die sich ihrer Schwäche hingeben, und es gibt die Menschen, die einer Übermacht ausgeliefert sind und trotzdem aufrecht bleiben. Und dann gibt es noch die Glücklicheren, die ihre Schwächen als grundlegend Menschliches zeigen und nutzen können. Umgekehrt scheint mir, dass die Starken zu feige sind, ihre Schwäche zu zeigen. Die Kunst ist nur ein Weg vorzuführen, welche Möglichkeiten in der Schwäche stecken. Es gibt ja auch Philosophien, Kampfsportarten oder Techniken, die mit der eigenen Schwäche auf die perfekteste Art umgehen.

StadtBlatt: Welchen Gewinn hat der Ausstellungsbesucher davon? Mehr Sensibilität für Schwächen?

Gereon Inger: Im Zeitalter des positiven Denkens ist es sehr nützlich, die andere Seite zu begehen und sich dem Negativen als Gegengewicht auszusetzen. Ich biete hier aber nicht das reine Negative, sondern alles: Schwäche und Stärke. Ausstellungsbesucher können schwache, schwankende Gestelle sehen, die aber so stabil sind, dass sie einen Zentner Holz tragen können. Sie finden schwach sichtbare Bilder auf brüchigem Laub mit schwachen, sterbenden, traurigen Menschen aber auch welchen, die kräftig, teilnahmsvoll, klar sind. Meine Botschaft ist keine negative. Sie steht zwischen dem Schwachen und dem Starken. Ich könnte mich nicht damit abfinden, dass ich eine positive, hoffnungsvolle frohe Botschaft abliefere. Ich muss über das Ganze reden mit meiner Arbeit, und darum finde ich positives Denken allein auch extrem negativ.