Kurt Schwitters

Kurt Schwitters

(1887-1948)
Materialsammlung von Gereon Inger

Abb. Postkarte von 1925
aus: Ernst Nündel – Kurt Schwitters. Wir spielen, bis der Tod uns abholt.
Ullstein, Berlin 1974

Kurt Schwitters wurde am 20. Juni 1877 in Hannover geboren und starb am 8. Januar 1948 in Ambleside (Westmoreland). Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte er ausgehend von dadaistischen Ideen seinen eigenen Kunst- und Literaturstil, den er „Merz“ nannte. Als sein berühmtestes Werk wird das Lautgedicht Anna Blume in Erinnerung bleiben.

Was ist Dadaismus? Eine Kunst, eine Philosophie, gar eine Feuerversicherung? Ist Dada wirkliche Energie? Oder ist es gar nichts, d.h. alles?Nach einem Studium an der Dresdener Akademie übersiedelte Schwitters nach Berlin, wo er sich den Expressionisten um Herwarth Walden anschloss. Nach Kontakten mit Raoul Hausmann und Hans Arp zurück in Hannover, gründete er dort einen Ableger der Berliner bzw. Zürcher Dada-Bewegung. Zum Programmtitel seiner Kunst, die Dichtungen, Gemälde und Architekturentwürfe umfasste, machte er 1919 das Wörtchen Merz. Es entstand infolge einer Collage aus der Verstümmelung des Wortes Commerz. Schwitters Merz-Bilder kombinierten in Form der Collage oder Assemblage Fundstücke wie Zeitungsausschnitte, Busfahrscheine, Bindfäden, Nägel, Haare oder Holzstücke zu neuen Arrangements. Zwischen 1923 und 1932 gab Schwitters die dadaistische Zeitschrift Merz heraus. In den zwanziger und dreissiger Jahren entstand auch der zweistöckige Merzbau, der sein Haus in Hannover in eine Raumcollage bzw. bewohnbare Plastik verwandelte. 1937 emigrierte Schwitters nach Lysaker bei Oslo (zweiter Merzbau), 1940 dann nach Langdale am englischen Lake District (dritter Merzbau). Zu Schwitters literarischen Werken, die ihn als einen Vorläufer der konkreten Poesie ausweisen, gehören seine Lautgedichte (v.a. Anna Blume, 1919) sowie die Ursonate (1932), bei der die Bedeutung völlig hinter die Klangqualität des Sprachmaterials zurücktritt.

Stempel

Der Kritiker Stempelzeichnung aus »Der Sturm«, 1921.

Stempelzeichnung , 1919.

Zwischen diesen Blättern und den eigentlichen Merzzeichnungen (Collagen) steht eine weitere Gruppe von Arbeiten, die Schwitters »Merz-Stempelzeichnungen« nannte, da ihr Charakter wesentlich durch den Abdruck banaler gebräuchlicher Stempel bestimmt wird. Fünfzehn solcher Stempelzeichnungen (die den Namen »Zeichnungen« durchaus verdienen, da sie nicht nur gestempelt, sondern auch gezeichnet sind) wurden schwarz-weiß als ganzseitige Tafeln in Schwitters‘ »Sturm-Bilderbuch IV«) von 1920 reproduziert. Es handelt sich bei den Stempelzeichnungen insgesamt um Blätter, auf denen rote, manchmal auch violette Schriftstempel in freier rhythmischer Anordnung erscheinen, dazu da and dort geklebte Papierstücke, mit Vorliebe Abschnitte von Randstreifen, wie sie den Briefmarkenblöcken der Post entlanglaufen, mit Wertziffern und Strichelungen. Die Stempel lauten etwa: Drucksache, Belegexemplar, Die Redaktion, Das Sekretariat, Verlag Abteilung Inserate, Der Sturm, Herwarth Walden, Berlin-Friedenau, v. Römer usw. Oft werden die Zeilen auf einem Blatt wiederholt, auch übereinandergedruckt, zuweilen nur in Bruchstiicken. Genießerisch kostet der Künstler das Typographische der wechselnden Schriften aus, in unverkennbarer, naiver Freude am Schriftbild. Auch abstrakte Elemente aus dem Setzkasten werden gelegentlich zu Linienfiguren aneinandergereiht. Zwischen Stempeln and geklebten Papierfetzen tauchen in den meisten Fällen gezeichnete Figuren auf, Figuren aus derselben Monographie, wie sie die Aquarelle und Farbzeichnungen zeigen: Spaziergänger mit Schirm, Tiere, Kirchen, Häuser, Wind- und Kaffeemühlen, Eimer, Räder, Fahrräder, Pfeile. Diese Dinge stehen gelegentlich »auf dem Kopf« oder werden dadaistisch verulkt: ein Haus etwa verwandelt sich in eine Kaffeemühle, eine Kirche hat einen Ringelschwanz. Handgeschriebene Zahlen, Wörter und Sätze – zum Beispiel: Du oder Anna Blume hat ein Vogel – sind in spitzer deutscher Schrift dazwischengestreut. Dann und wann bilden sich durch radiale Anordnung der Stempelzeilen runde, radförmige Figurationen, die sogar einmal als menschlicher Kopf gedeutet werden können. Ein solches Blatt hat den Titel Der Kritiker: Über dem »Kopf« erheben sich gleich gesträubten Haaren die wiederholten Zeilen Der Sturm, und aus dem »Mund« fallen Pfeile, Klebenummern und Stempel wie Herwarth Walden, Belegexemplar, Bezahlt und Zahlbar nach Empfang innerhalb 14 Tagen. All dies wird spielerisch-rhythmisch auf der Fläche verteilt. Der Reiz der Blätter liegt in der Rhythmik, im assoziativen Humor und in der Naivität der Freude am Abdruck von Stempeln überhaupt. In seiner Einleitung zu Schwitters‘ Sturm-Bilderbuch schreibt Otto Nebel: »Zahlen und Buchstaben bleiben rein bildhaft. Ihre Begrifflichkeit ist künstlerisch belanglos. An sich ist Schrift graphische Spur eines Wortes. Im Merzbild wird Schrift wortloser Klang reiner Linien. Begriffliches wird ausgemerzt. « Aber es ist doch auch nicht zu übersehen, daß das »Begriffliche« in diesen Stempelbildern ein wesentliches Reizelement bildet. Die Stempel bleiben keineswegs »rein bildhaft«, obschon Schwitters selbst es so gemeint hat. Die Banalität der lesbaren Texte ist für den Bildausdruck durchaus nicht unwesentlich. Die Freude am Unsinn hat den Wortlaut der Texte, auch wenn er im Optischen aufgehoben wird, zur Voraussetzung.

Schmalenbach, Werner – Kurt Schwitters. (Monographie und Werkverzeichnis).
Köln: Verlag M. DuMont Schauberg, 1967.
Illustr. OLn. m. farb. illustr. OU. 403 S. mit 54 Farbtafeln sowie 356 Textabb.
(darunter 189 Beispielen aus den einzelnen Schaffensperioden). – 30,5 x 21,5.

WAS IST KUNST?

Was Kunst ist, wissen Sie ebensogut wie ich, es ist nichts weiter als Rhythmus. Wenn das aber wahr ist, so beschwer ich mich nicht mit Imitation oder mit Seele, sondern gebe schlicht und einfach Rhythmus mit jedem beliebigen Material, Strassenbahnfahrscheinen, Ölfarbe, Holzklötze, ja da staunen Sie Bauklötze, oder mit dem Wort in der Dichtung, dem Ton in der Musik, oder wie Sie wollen. Darum sehen Sie sich nicht das Material an, denn das ist unwesentlich. Suchen Sie nicht versteckt irgendeine Imitation von Natur, fragen Sie nicht nach Seelenstimmungen, sondern suchen Sie trotz des ungewöhnlichen Materials, den Rhythmus in Form und Farbe zu erkennen. Mit Bolschewismus hat das ebensowenig zu tun wie der moderne Bubikopf. Dafür ist es die Essenz aller Kunst, das heisst, jedes Kunstwerk aller Zeiten musste diese primäre Forderung erfüllen, Rhythmus zu sein, sonst war es nicht Kunst.